Der eisige Splitter der Hoffnung: Die Schneekönigin


Beth liegt im Sterben, der Krebs ist auf dem Vormarsch. Aller Realität zum Trotz und gerade deshalb werden sie und Tyler heiraten. Wenn er, der mäßig bis nicht erfolgreiche Musiker, doch nur wenigstens dieses eine Mal den perfekten Song schreiben könnte, etwas, das er noch nie geschafft hat. Immer hinkte das vollendete Werk seinen Erwartungen und Vorstellungen hinterher, kam nie an die Musik heran, welche er durch das Kokain zu erreichen suchte. Vergebens. Doch dieses Mal muss es anders werden, Beths Hochzeitsgeschenk muss all das ausdrücken, was er für sie empfindet, ohne dabei bedeutungslos oder emotional zu sein. Dieser Song soll ewig sein, sie begleiten, dorthin, wohin Tyler ihr nicht folgen kann. 
Tylers Bruder Barrett, auch er trotz bester akademischer Voraussetzungen eine im materialistischen Sinne gescheiterte Existenz, fristet sein Leben zwischen wechselnden unbefriedigenden Jobs und zunehmend lapidarer werdenden Trennungen. 
Was aber bedeutet dieses Licht, das auf ihn zurück geblickt hat? Hat ihm das Universum, oder Gott, oder irgendwas eine Nachricht geschickt, seine Existenz wahrgenommen? Ist es ein Omen, was er am nächtlichen Himmel des Central Parks erlebt, bevor er in die schäbige Wohnung in Bushwick zurückkehrt, die er sich mit seinem Bruder Tyler und dessen sterbender Freundin teilt? 
Als sich Beths Zustand zu bessern beginnt, finden selbst die Ärzte kein passenderes Wort als „Wunder“ - doch hat dieses Wunder entgegen aller Erfahrung und Wahrscheinlichkeiten Bestand? Kann die Hoffnung und das überirdische Licht das Schlimmste abwenden?
 
Michael Cunningham hat nach „The Hours“, mit dem er den Pulitzer Price gewann, wieder einmal einen großen Roman geschrieben, der sich an ein literarisches Vorbild anlehnt. Mit „The Snow Queen“ lässt er Hans Christian Andersens Märchen der Schneekönigin neu aufleben und entwirft zugleich eine moderne, eigenwillige Hommage an den aus sieben Geschichten bestehenden Urtext des großen Märchenerzählers. 
Zahlreiche Motive des Andersen-Märchens durchziehen den Roman, Cunningham spielt gekonnt mit ihnen und den daraus resultierenden Erwartungen des Lesers. Dabei verliert er jedoch nie seine bodenständige Erzählweise; dem Sog seiner narrativ üppigen Prosa kann man sich nicht entziehen. 
Barrett und Tyler sind optisch wie auch menschlich der Inbegriff gegensätzlicher Brüder, welche sich dennoch wortlos verstehen und beide im Glauben sind, sich um den jeweils anderen kümmern zu müssen. Der jüngere, Barrett, ist unentschlossen, fand seinen Weg bisher nicht in der erwarteten akademischen Laufbahn - immer auf der Suche nach Liebe, entdeckt er für sich, dass er wahrgenommen wird, obwohl er nichts Großes geleistet hat, nichts dergleichen leisten muss. Er findet, ebenso wie Tyler durch Beths Krankheit zu neuen musikalischen Inspirationen und Erfolgen findet, zu sich selbst und zu einem Partner, der ihn als den Mensch wahrnimmt und schätzt, der er ist. 
Tyler dagegen hadert mit dem Unausweichlichen, mit seinem nicht ausreichenden Talent, mit dem Sinn, den er so bald verloren hat. Obwohl er Trost findet und Erfolge verzeichnen kann, etwas, wonach er sein ganzes bisheriges Leben gestrebt hat, kann das doch nicht ersetzen, was er dabei ist zu verlieren. Verzweifelt steckt er all seine Bemühungen in den Song, den er Beth zu ihrer Hochzeit schenken will. Der Song, der Beths unabwendbar erscheinenden Tod überdauern soll, sie begleiten soll, einhüllen soll in seine Liebe. Trotz der Hilfe des Kokains sieht sich Tyler jedoch auch in diesem Projekt gescheitert, obgleich er so viel Zeit, Mühe und Bedeutung in diesen Song gesteckt hat. Da es Beth aber auf wundersame Weise besser geht, scheint ihm sein Scheitern nicht ganz so dramatisch. 
Der Splitter des Spiegels im Märchen, bei Tyler eine verirrte Schneeflocke, eine kostbare Auszeichnung (obgleich er auch seine Paranoia verstärkt), Barretts Begegnung mit dem Licht ähnelnd, kann jedoch nicht ewig in seinem Auge verbleiben. Irgendwann muss der Zauber des Schnees vergehen und mit ihm der Schwebezustand, in den er ihn und Beth gehüllt hat. In wechselnden Perspektiven der sich im Laufe der Romanhandlung enthüllenden vier (nicht drei, wie man zu Beginn glaubt) Protagonisten erzählt der Autor von verzweifelter, zum Scheitern verurteilter Hoffnung, von Liebe, die einen aus unerwarteter Richtung trifft, und nicht zuletzt von der unabwendbaren Realität des Seins, die durch keinen Zauber abgewandt werden kann - auch wenn sie bisweilen unter einer sanften Decke aus Schneeflocken zu verschwinden scheint.

Die Scheekönigin (orig. The Snow Queen) 
von Michael Cunningham 
2015 Luchterhand Literaturverlag 
ISBN 978-3-630-87458-6
 
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Auch in der gebundenen Englischen Ausgabe noch erhältlich:

Hatte ich schon erwähnt, wie unglaublich witzig Cunningham live ist? Hier liest er aus "The Snow Queen" in der Buchhandlung Politics and Prose:

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