Eine Jugend zwischen Sehnsucht und Gleichgültigkeit: Palo Alto
James Francos Kurzgeschichten spielen alle in Palo Alto. Einer ganz
normalen Stadt in Kalifornien. Eine Stadt, die eigentlich überall sein könnte.
Er erzählt uns unter anderem von einem Jungen, der eine Frau tot fährt
und flüchtet. Ein Junge, der sich nichts weiter dabei denkt, ein Menschenleben
genommen zu haben, sondern dessen einzige Sorge darum kreist, ob er nicht doch
noch gefasst werden könnte („Halloween“). Franco nimmt uns mit in die Gedanken
jener, die lieber sterben, als zu leben, nur um etwas zu fühlen, wie in der
Geschichte „Jack-O‘“.
In „Lockheed“ beobachten wir ein namenloses Mädchen, das sich aus
ihrem inhaltslosen, grauen, starren Alltag in einen toten Jungen zu verlieben
glaubt, nur weil er ihr vor seinem tragischen, brutalen wie sinnlosen Tod ein
Fünkchen Aufmerksamkeit geschenkt hat. Wir erfahren von Aprils Trauma („April“),
von einem Mädchen namens Pam, genannt Chinatown, das in dem einem Triptychon gleichenden
Storyzyklus mehr Grausamkeit, Demütigung und Misshandlung ertragen muss von
ihren Altersgenossen, als irgendjemand es je sollte („Chinatown“).
Da kam einer daher, der war Schauspieler, Künstler und Regisseur.
Alles mehr als erfolgreich. Doch das war nicht genug, denn er war auch ein
schriftstellerisches Talent. James Franco hat uns mit diesen Kurzgeschichten
etwas Großartiges geschenkt. Kein anderer erzählt bisher so lakonisch, so
emotionsfrei, so nah und wahr aus dem Leben dieser Generation von Jugendlichen.
Er gibt ihnen eine Stimme: Denen, die nichts zu sagen haben, aber dabei doch so
viel von sich und ihren Einstellungen, ihren Werten oder besser – all dem nicht
vorhandenen – preisgeben.
James Franco schreibt zwölf schockierende Kurzgeschichten über die
Jugendlichen von Palo Alto, darunter zwei, die sich nochmal, wie ein
Tryptichon, in drei Kapitel gliedern. Immer und immer wieder lässt er uns die
Kälte, die Lakonie, die Grausamkeit der Jugendlichen, denen alles und jeder
egal ist, spüren. Gerade das macht ihn zu einem außergewöhnlich guten
Schriftsteller. Die Wiederholung des Abstoßenden, des Schockierenden, Bestürzenden,
genau das ist die Drastik, welche vielen anderen Autoren fehlt.
Worum geht es dieser Generation? Was bewegt sie - abgesehen von Sex,
Alkohol und Drogen. Sie bringen die Zeit vorüber, aber leben sie dabei? Fühlen
sie überhaupt etwas? Oder ist da nur ein ganz tiefes, dunkles Loch in ihren
Herzen?
Diese Kurzgeschichten sind nichts für zart Besaitete. Das wahrhaft
erschreckende ist jedoch nicht, was passiert, sondern wie die jugendlichen
Protagonisten damit umgehen, exakter noch, was sie dabei ermangeln: Empathie,
Wärme, Hoffnung, Ziele, Zukunft und noch so vieles mehr. Respekt zum Beispiel,
für sich selbst und andere.
Es schaudert einen beim Lesen, diesen herzlosen, kaputten,
selbstzerstörerischen Jugendlichen dabei zuzusehen, wie sie ihre Lebenszeit
vergeuden, ihre Mitmenschen quälen und verletzen. Hinter jeder lustlosen,
zerstörerischen Handlung versteckt sich jedoch eine leise Sehnsucht, eine
Sehnsucht nach Bedeutung, nach mehr.
James Franco weiß diese Stimmung, die unvergleichlich ist, aufwühlend,
schockierend und abstoßend bisweilen, nur mithilfe seiner emotionslosen
Sprache, seiner lebhaften Schilderung des eigentlich Leblosen, dem Leser bis
ins Mark kriechen zu lassen. Er ist wahrhaft ein grandioser Autor und
Drastiker.
Kurzgeschichten, die einen nie mehr loslassen. Phantastisch.
P.S. Allerdings muss ich anmerken, dass die Bonus Story „Yosemite“,
nun, wie soll ich es sagen, sie passt einfach nicht so ganz zu den anderen
Geschichten. Dennoch tut das der Genialität des Gesamtwerkes keinen Abbruch.
Palo Alto (dt. Palo Alto)
von James Franco
2011 Faber & Faber
ISBN 978-0-571-27318-8
Interesse? Hier geht es direkt zum Buch auf der Verlagsseite:
Auch in der etwas größeren, blauen Ausgabe erhältlich:
Oder doch lieber auf Deutsch lesen?
Oh, den wunderbaren Trailer zur Verfilmung von Francos Storys will ich
euch natürlich nicht vorenthalten:
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