Faszination, Abhängigkeit, Obsession: Die Gefangene von Emily Dickinson


Emilia war schon immer anders. Schon als Kind blieb sie gerne für sich und beschäftigte sich lieber mit ihrem imaginären Zwillingsbruder Alvim, mit ihrem Stoffkraken Vielarm und der Sandkönigin. Sie alle kümmerten sich um sie, verstanden sie, während ihr Vater arbeiten war und sie mit der emotionslosen, kaltherzigen Mutter und ihrer machtlosen Großmutter zurückließ. Sie waren ihr einziger Halt, als ihr Vater starb und Emilias Leben zusammenbricht - denn nicht nur er verschwand damit aus ihrem Leben. Im privaten Englischunterricht mit ihrer besten (da einzigen) Freundin Sara hört sie unter der Anleitung ihrer amerikanischen Englischlehrerin das erste Mal von Emily Dickinson. Jedes kleine Stückchen Biografie und Lyrik saugt Emilia in sich ein und der unbändige Wunsch wie Emily Dickinson zu werden, lässt sie nicht mehr los und bestimmt fortan ihre Gedanken und ihr Handeln. Auch wenn die egozentrische, extrovertierte Sara sie immer wieder drängt, aufgeschlossener zu sein und von Emily Dickinson abzulassen, bleibt diese Emilias Obsession, auch gelegentliche Affären können daran nichts ändern. Denn Emilia verliebt sich nicht, war noch nie verliebt. Selbst als sie erwachsen ist und von Wohnung zu Wohnung flüchtet, erkennt sie die Chance der Liebe nicht, die ihr in Gestalt ihres neuen Nachbarn geboten wird. Zu lange schon lebt sie im Schatten Emily Dickinsons.
 
Ana Nobre de Gusmãos „Die Gefangene von Emily Dickinson“ ist in mehrfacher Hinsicht ein besonderer Roman. Einerseits ist da die ungewöhnliche Sprunghaftigkeit des personalen Erzählers, welcher zuweilen mitten im Absatz oder auch mitten im Satz selbst, von einer Zeit in eine andere wechselt und von einer völlig anderen Situation erzählt, als der, in der man sich eben noch befand. Hinzu kommt die lyrische Sprache, die sich beinahe nahtlos den Einschüben aus Emily Dickinsons Gedichten oder Briefen anpasst. Einen Bruch bildet dabei die erotische Internetkorrespondenz Emilias mit einem Unbekannten, die sich nicht nur typografisch, sondern auch in ihrem Stil und der Verwendung von Abkürzungen und Symbolen komplett vom Rest des Textes absetzt. Denn obgleich auch Zitate von Emily Dickinson oder ihrer Zeitgenossen in einer anderen, handschriftlicheren Schriftart gesetzt sind, so sticht Emilias Flirt im Netz zusätzlich durch die Abwesenheit jeglicher Serifen heraus. 
Emilia hat es nicht leicht in einer Familie, die von der verhärmten Mutter dominiert wird, welche so kalt und emotionslos ist, dass sie all die anderen Familienmitglieder dazu zwingt, sich gegenseitig nur beim Vornamen zu nennen. „Vater“, „Sohn“, „Tochter“ - all das sind Begriffe, welche Emilias Mutter rigoros korrigiert und ebenso wie das Gefühl, welchem sie entspringen - der Liebe zueinander, ausmerzen will. Dadurch drängt sie die ungeliebte Emilia jedoch nur noch mehr in die ihr verhasste Phantasiewelt, flankiert von der Sandkönigin, Vielarm und Alvim. Nur von ihrem Vater fühlt sie sich geliebt, sie idealisiert ihn und nach seinem Tod ist für sie nichts mehr, wie es war. Dieser Einschnitt, der Verlust des Vaters, ist neben der lieblosen Mutter eine der Parallelen zu Emily Dickinsons Biografie auf Grund derer sie sich mit der großen Dichterin identifiziert. Doch Emilia belässt es nicht bei reiner Identifikation, nein, sie beginnt Emily nachzuahmen - als Jugendliche kauft sie sich ein altes weißes Nachthemd und versucht bei Taschenlampenschein (in Ermangelung von Kerzen) wie Emily in der Klausur ihres Zimmers Gedichte zu schreiben, oder doch zumindest Emilys zu übersetzen oder abzuschreiben. Doch bald ist auch das nicht mehr genug, sie macht sich Emily zu eigen, ist besessen von ihrer Lyrik, welche sie in allen Lebenslagen zitiert, und von ihrem Leben, welches sie so authentisch es ihr möglich ist, nachleben sucht. Emily trug nur noch Weiß als Erwachsene und verließ ihr Haus nicht mehr, zeigte sich weder den Nachbarn, noch Besuchern. Aus praktischen Gründen wählt Emilia statt dem schmutzanfälligen und wenig schmeichelhaften Weiß, das ebenso schlichte Schwarz. Ihre Wohnungen wechselt sie - Emily kontrastierend - so häufig, dass sie ihre Kartons gar nicht mehr auspackt. Männer hält sie auf Distanz, verliebt war sie niemals und hat es auch nicht vor, die Anonymität und Zwanglosigkeit des Internets, wo sie ungehemmt flirten und sich jederzeit neu erfinden kann, bietet ihr eine Freiheit, die ihr im wahren Leben ermangelt. Als Max, ihr neuer Nachbar, dann jedoch zögerliche Annäherungsversuche macht, lässt sie sich auf eine zwang- und anspruchslose Affäre ein, in dem Glauben, dass auch diese ihr Herz nicht berühren könnte. Anstatt ihr eigenes Leben zu leben, es in die Hand zu nehmen, bleibt sie im langen Schatten Emily Dickinsons gefangen, schon lange vermischen sich die Grenzen ihres und Emilys Lebens zusehends. 
Mit zarter, liebevoller Leichtigkeit gelingt es der Autorin den Stil Emily Dickinsons in ihren eigenen einfließen zu lassen, ihm zuweilen die Dominanz zu gewähren und damit eine sehr authentische Spiegelung des Lebens der großen amerikanischen Dichterin im Leben ihrer Protagonistin zu erschaffen. Die Sprunghaftigkeit der Erzählung, rasch wechselnd zwischen Gegenwart und Vergangenheit Emilias und den biografischen Einschüben über Emily Dickinson, sind keinesfalls störend oder verwirrend, im Gegenteil, durch sie entwickelt die Handlung einen suggestiven Sog, welcher der haltlosen Obsession Emilias gerecht wird. 
Ana Nobre de Gusmão, eine der wichtigsten Gegenwartsautorinnen Portugals, hat mit „Die Gefangene von Emily Dickinson“ einen lyrischen, einzigartigen Roman über eine verlorene, junge Frau geschrieben, der ebenso eine Hommage an Emily Dickinson ist wie er von einer Faszination, die sich zur Obsession auswächst, und von den fließenden, unscharfen Grenzen von Identität und Realität erzählt.

Die Gefangene von Emily Dickinson (orig. A prisioneira de Emily Dickinson) 
von Ana Nobre de Gusmão 
2013 Weidle Verlag 
ISBN 978-3-938803-57-8
 
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