Über die Urkatastrophe des letzten Jahrhunderts: Ballade vom Abendland


1914 bis 1918 standen sich in ebenso unbeweglichen wie unerbittlichen Schützengräben Deutsche und Franzosen an einer völlig verhärteten Front gegenüber. Als „Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts“ von Historikern bezeichnet, stellt der Erste Weltkrieg einen gravierenden Einschnitt dar, dessen Verlauf, Ausgang und Auslöser uns allen bekannt sind. So scheint es. 
Doch hinter den Fakten, schon lange vor dem Attentat von Sarajewo, taumelte der europäische Kontinent auf den Abgrund zu, der sich in der menschenverachtenden Kriegsführung dieses ersten technisierten Krieges der Menschheitsgeschichte gipfeln sollte. Zahlreiche Akteure schaukelten sich gegenseitig, gehüllt in undurchsichtige Bündnisse, verkrustete, reaktionäre Strukturen und scheinbar allzu menschliche Motive, zu einem bis dahin unvorstellbaren Massensterben der Sinnlosigkeit auf. Zunächst scheint jedoch alles nach Plan zu verlaufen, dem durch von Schlieffen perfektionierten, minutiös berechneten Schlieffenplan, um genau zu sein. Als die Fronten sich jedoch verhärten, von dem Wörtchen „Blitz“ in diesem sich zaghaft um wenige Meter vor und zurück bewegenden Stellungskrieg keinerlei Rede mehr sein kann und selbiger sein gesichtsloses Menschenmaterial auf allen Seiten immer erbarmungsloser verschlingt, bleibt nichts als ohrenbetäubende Stille und Entsetzen.
 
"Und in dem Augenblick, in dem sie die allererste Sorge, das schwer erkennbare Indiz, 
aus dem Blickfeld geräumt haben, wissen sie noch nicht, 
dass der Lichtglanz, den sie hinter den Kleidern zu sehen meinten, 
dass die hübsche Wahrheit, die sie zwischen den Zweigen erblickten, 
bald brennen und verfaulen werden im azurnen Schlund."

Éric Vuillards furiose Erzählung „Ballade vom Abendland“ stellt den Ersten Weltkrieg in einer nie dagewesenen, außergewöhnlichen Form und Sprache dar. 
Ein auktorialer Erzähler vermittelt die Geschehnisse dieser prägenden Schreckensjahre in 166 Seiten purster, an Lyrik gemahnender, sarkastisch-treffender Prosa, die den Leser das Fürchten lehrt. 
Zusammenhänge, welche ansonsten von Geschichtsbüchern höchstens zart angeschnitten werden, mit solcher Mühelosigkeit offenbar zu machen, Geschichte als eine Vielzahl sich kulminierender und gegenseitig in Bewegung versetzender Einzelmomente und -geschichten lebendig werden zu lassen und erlebbar zu machen, aber dabei jedoch stets eine Wertung nahezu unmerklich miteinfließen zu lassen, zeugt von Vuillards schriftstellerischem wie narrativen Können. Der Ton dieses Romans über das Grauen bis dato ungekannter menschlicher Abgründe ist dabei durchweg geprägt von einer jovialen Leichtigkeit, das abstoßend Groteske und Fahrlässige des menschenverachtenden Krieges umso stärker betonend. Akteure des Krieges, Schuldige wie Mitläufer, Menschenmaterial wie Gefangene und Befehlshaber, schildert der Autor allesamt keinesfalls auf Schwarz und Weiß, Gut und Böse beschränkt. Indem er die verschiedenen Facetten jeder historischen Persönlichkeit mit wenigen, wohlgewählten Worten andeutet, zeichnet er ein umso umfassenderes, lebendigeres Bild ihrer Zeit und ihrer Ambivalenz, welche uns allen innewohnt. 
Auf so geringem Raum gelingt es Éric Vuillard ein solch düster glimmendes Portrait eines unbegreiflichen historischen Ereignisses zu erschaffen, welches die bekannte Welt aus ihren Angeln hob und den Verlauf der Geschichte unwiderruflich weiter auf den kommenden, noch kälter und menschenverachtender kalkulierten Abgrund zusteuern ließ. Denn der Erste Weltkrieg war nur der Auftakt, legte er doch viele Grundlagen für den ihm nachfolgenden Zweiten Weltkrieg - beide entsprangen sie jedoch derselben lange zuvor gesäten und weiterhin ungehindert schwelenden Zwietracht und Aggressivität dieses Kontinents. Wo die sprachlos machende Vernichtung, Gewalt und Entmenschlichung zu einem Aufschrei hätte führen sollen, der ob der außer Kontrolle geratenen Gewalt wiederum die Vernunft wiederbringen hätte müssen - dort führt sie stattdessen zu kollektiver Verleugnung derselben und zu einer weiteren Radikalisierung, die das Abendland zum nächsten, noch grausameren Krieg bewegt. Die „Ballade vom Abendland“ ist eine treffende, lyrische Erzählung über die „Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts“, über ihre mannigfaltigen Ursachen, ihre zahlreiche Akteure ebenso wie über die Unerbittlichkeit des Grauens und des sinnlosen Leides.

Ballade vom Abendland (orig. La Bataille d’occident) 
von Éric Vuillard 
2014 Matthes & Seitz Berlin 
ISBN 978-3-88221-193-1
 
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