Atemberaubend: Bilder deiner großen Liebe
Isa steht auf dem Hof der Anstalt. Das Tor geht auf und Isa huscht
hinaus. Gesehen hat sie keiner. Wohin? Überall hin, nur weg.
Dabei hat sie nur ihr Tagebuch und den mysteriösen Inhalt ihrer
vorderen rechten Hosentasche, den sie sich aber lieber nicht ansehen will, um
sich die Vorfreude auf die Überraschung nicht zu verderben. Isa streift durch
Wälder und Felder, steigt über Zäune, schläft im Gras unter freiem Himmel und
genießt die Natur um sich herum, saugt sie auf wie ein Schwamm.
An einem Fluss und auf einen Friedhof macht sie kurz Halt, in ihrem
Streben nach Bewegung, immer Bewegung, aber ohne Ziel. Sie träumt sich in das
Leben der Leute, an deren Häuser sie vorbeikommt, sie träumt von ihrem Vater,
an den sie sich nicht mehr erinnert, oder vielleicht doch, träumt sich durch
Tage und sternenklare Nächte. Sie flüchtet vor einem bellenden Hund, sucht
Schutz vor den Naturgewalten und begegnet einem Binnenschiffer, der ihre
wundgelaufenen Füße verarztet. Isa mäht einem Schriftsteller den Rasen,
unterhält sich mit einem taubstummen Jungen und immer wieder rennt sie davon.
Sie streift die Leben anderer verlorener Seelen, verwickelt sie in
absurde Gespräche randvoll mit Wahrheiten und verlässt sie so plötzlich, wie
sie erschienen ist - bis sie zwei Vierzehnjährigen auf einer Müllhalde
begegnet.
"Und da wandert die Sonne nicht mehr
weiter, und die Zeit steht still. Das ist leicht."
„Bilder deiner großen Liebe“ von Wolfgang Herrndorf ist, wie der
Untertitel besagt, ein unvollendeter Roman, ein Fragment. Der Roman besteht aus
vielen kleinen Episoden, alle erzählt aus Sicht Isas, doch die Handlung ist
nicht kontinuierlich und hat Lücken, springt, würde sich auch zuweilen
wiederholen, hätten die Herausgeber, welche das Manuskript und „Verstreutes“,
aus dem dieser Roman zusammengefügt wurde, nicht in genau diese Reihenfolge
gebracht. Der Vergleich mit Franz Kafka und Max Brodt liegt nahe.
Selbst in ihrem Nachwort stellen die Verleger heraus, wie ungern Herrndorf
bis kurz vor seinem Tod diesen Roman veröffentlichen wollte. Ihn unvollendet zu
lassen, war ihm ein Gräuel, ein anderer sollte ihn aber auch nicht zu Ende
schreiben. Aber irgendwie ist das ja dann doch passiert. Als Leser kann man
schwer nachvollziehen, was alles lektoriert wurde und inwiefern das dann noch
den ursprünglichen Gedanken des Autors widerspiegelt, diesen überhaupt noch in
sich birgt oder ihn gar verzerrt. Zweifellos ist es kontrovers, viele Leser
werden auch mit den offensichtlichen Unstimmigkeiten in Zeitablauf oder
Handlung nicht zurechtkommen.
Dialoge wechseln sich ab mit surrealen Traumsequenzen, einfühlsame
Naturbeschreibungen folgen auf Kindheitserinnerungen Isas und machen immer
wieder ihren widersprüchlichen, skurrilen, liebenswerten inneren Monologen
platz.
Doch gerade diese Sprunghaftigkeit, die Unsicherheit, die einen beim
Lesen befällt, ob man Isas Version der Geschehnisse denn nun trauen kann, ob es
so etwas wie die eine Wahrheit überhaupt gibt, was und ob sie sich Teile des
Erzählten einbildet, das macht auch die Genialität und den Charme dieses
literarischen Kunstwerkes aus. Am Ende ist es dann nicht mehr wichtig, wer was
wie angeordnet hat oder welche geringfügigen Änderungen vorgenommen wurden, die
Handlung könnte auch anders zusammengesetzt sein, so wenig steht sie meiner
Ansicht nach im Vordergrund. Vielmehr geht es um das Empfinden, das
ungefilterte und nicht gewertete Erleben einer Protagonistin, welche in mehr
als nur einer Hinsicht aus der Norm herausfällt.
Es ist ein höchst suggestiver, intensiver Roman, stets an der Schwelle
des Traums und der Halluzination verweilend, strahlt er durch die
unzuverlässige, poetische Erzählweise der mehr oder weniger verrückten Isa eine
unvergleichliche Melancholie und Verlorenheit aus. Herrndorf verleiht durch
seine einzigartige Mischung aus Realität und Traum unser aller Einsamkeit und
Verschrobenheit durch Isa eine sanft schimmernde Stimme. Gebrochen, verwirrt,
verrückt, vielleicht halluzinierend oder hellsichtig, aber deshalb umso
authentischer und wahrhaftiger.
„Bilder deiner großen Liebe“ ist ein außergewöhnliches Romanfragment,
ein Außenseiterroman, dessen narrative Kraft von Herrndorfs ungemein lyrischer,
zuweilen rohen Sprache gespeist wird. Isa streift wie ein Geist durch die Leben
derer, denen sie auf ihrer Wanderung ohne Ziel begegnet, nie hat sie die
Absicht, länger im Leben eines anderen zu verweilen. Sie geht ihren Weg,
allein, manchmal auf Umwegen und mit Schwierigkeiten, nicht auf der Suche, aber
immer auf der Flucht - vielleicht ja am Ende vor sich selbst.
Ein atemberaubendes Stück Gegenwartsliteratur.
Bilder deiner großen Liebe - Ein
unvollendeter Roman
von Wolfgang Herrndorf
2014 Rowohlt Berlin
ISBN 978-3-87134-791-7
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Ab dem 27.11.2015 auch als Taschenbuch bei Rowohlt erhältlich:
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