Beherzter Griff nach dem Glück: Das Schloss in den Wolken
Die Familie Stirling ist alteingesessen in Deerwood, arrogant und
hoffnungslos versnobt. Mit 29 Jahren noch unverheiratet und ohne Verehrer in
Sicht ist Valency, genannt Doss, das Gespött ihrer lieblosen Familie, in der
das Einhalten der Konventionen, des Scheins und der sich stetig wiederholenden
Rituale das Wichtigste ist. Seit sie ein kleines Mädchen war, wird Valency
konstant an ihre Unzulänglichkeit als Tochter und Frau erinnert, denn sie ist unscheinbar.
All ihre Verwandten machen aus ihrer Geringschätzung keinen Hehl. Valency Leben
verstreicht in Einsamkeit, Angst und Traurigkeit. Nichts wünscht sie sich mehr
als frei zu sein, aufrichtig als Mensch wertgeschätzt zu werden. In ihrem
Blauen Schloss, in das sie sich seit Kindertagen in ihren Träumen flüchtet,
könnte sie hingegen nicht glücklicher sein.
Da sie schon seit geraumer Zeit immer wieder Anfälle mit Schmerzen am
Herzen erleidet, entschließt sie sich heimlich den örtlichen Arzt aufzusuchen.
Dessen Diagnose verändert ihr Leben radikal. Valency hat genug - sie bricht aus, schockiert ihre Familie und
sucht im wahren Leben nach ihrem Blauen Schloss.
"'Ich glaube, jeder hat sein Blaues
Schloss', sagte Cissy leise.
'Nur hat jeder einen anderen Namen dafür. Ich
hatte auch eins - früher.'"
Lucy Maud Montgomerys Roman „Das Schloss in den Wolken“ ist, obgleich
bereits 1926 veröffentlicht, bislang noch nie ins Deutsche übersetzt worden.
Das ist außerordentlich schade, denn Montgomerys andere Bücher (die „Anne of
Green Gables“-Reihe) sind Klassiker der englischsprachigen Kinder- und
Jugendliteratur. Dieser wundervolle Entwicklungsroman erschien in einer
hinreißenden Ausgabe beim Königkinder Verlag, doch ich bin auf Grund der
Thematik und des Alters der Protagonistin der Ansicht, dass er sich auch in der
Belletristik mehr als gut machen würde.
Valency, verängstigt und optisch unscheinbar, leidet unter der
Einengung ihrer Familie, ihrer offensichtlich mangelnden Attraktivität (immer
stand sie im Schatten ihrer schönen Cousine) und ihrem scheinbar unabwendbaren
Schicksal als alte Jungfer. Denn in ihren ganzen 29 Lebensjahren hatte sie noch
keinen einzigen Verehrer. Ihr Leben ist eintönig und bestimmt von den Ängsten,
ihre Familie vor den Kopf zu stoßen oder in irgendeiner Art negativ aufzufallen.
Sie ist, trotz ihrer Vorsicht und ihres Schweigens über ihre wahren Ansichten, stets
das Gespött der Familie, ihr Onkel Benjamin lässt keine Gelegenheit aus, Scherzfragen
auf ihre Kosten zu stellen oder sie daran zu erinnern, wie sie als Kind einmal
heimlich von der Erdbeermarmelade genascht hatte. Valency wünscht sich nichts
als fort. Als ihr eine fatale Diagnose gestellt wird, fasst sie sich endliche
ein Herz und beschließt, fortan kein trauriges, verängstigtes, fremdbestimmtes
Leben mehr zu führen. Ihre Familie reagiert schockiert und verständnislos auf
ihre neue - und vor allem unerwünschte - Ehrlichkeit, die Stirlings sehen ihre
Ansichten bevorzugt unangefochten, mit der Wahrheit können sie nicht umgehen.
Doch damit nicht genug, Valency geht noch weiter: Sie verlässt ihr verhasstes
Elternhaus und kehrt ihrer kaltherzigen Mutter den Rücken, indem sie sich eine
Anstellung als Haushaltshilfe sucht. Ihr skandalöses Verhalten sorgt für Panik
und Aufregung unter den Stirlings, sie muss verrückt geworden sein, anders
können sie sich dieses in ihren Augen schamlose, undankbare wie unstandesgemäße
Verhalten nicht erklären.
Durch ihre neue Freiheit und Selbstständigkeit gewinnt Valency an
Selbstvertrauen und fühlt sich zum ersten Mal wirklich nützlich und gebraucht.
Obwohl sie glücklicher ist als je zuvor, hat sie ihr Blaues Schloss noch nicht
gefunden. Aber verliebt hat sie sich bereits - und so widersetzt sich Valency
ein weiteres Mal ihrer Familie und den Konventionen ihrer Zeit, um ihr Glück,
ihr Blaues Schloss, endlich zu finden.
„Das Schloss in den Wolken“ ist ein noch immer aktueller
Entwicklungsroman, in dem die hoffnungslose Protagonistin nach Jahren der
Zurückhaltung, des Schweigens und der Angst, endlich den Mut und die Kraft
findet, sich nicht mehr zu verstecken und unterdrücken zu lassen, sondern sie
selbst zu sein und für ihr Glück zu kämpfen - endlich zu leben. Lucy Maud
Montgomery portraitiert aber auch die Oberflächlichkeit und Scheinheiligkeit
einer Gesellschaftsschicht, welche nicht mehr wahre Werte verkörpert, sondern
nur noch dem eigenen Ansehen und ihrem bisschen Macht nachhängt. Andere zu grundlos
zu verurteilen, ihre Macht zu missbrauchen und Schwächere zu demütigen, ist
ganz normal für sie. In ihrem Opportunismus zählt nur ein Wert: Geld. Denn Geld
bedeutet Macht und Ansehen.
In grandiosen Naturbeschreibungen und durch Valencys Liebe für Einfachheit,
Echtheit und Natürlichkeit unterstreicht die Autorin subtil den Unterschied zu
ihrer Familie und hebt ihre wahren Stärken hervor.
Lucy Maud Montgomerys „Das Schloss in den Wolken“ ist ein berührender
Roman über Freiheit, Selbstbestimmung, Glück und den Mut, danach zu greifen.
Das Schloss in den Wolken (orig. The Blue Castle)
von Lucy Maud Montgomery
2015 Königskinder Verlag
ISBN 978-3-551-56014-8
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Verlagsseite:
Das englische Original ist in verschiedenen Ausgaben antiquarisch
erhältlich.
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