Beklemmend: Der Dieb in der Nacht
Kurz nach dem Abitur an einem heißen Sommernachmittag geht Felix los,
eine Cola an der Tankstelle holen. Er kommt an diesem Nachmittag nicht wieder,
auch nicht am Abend, in der Nacht, den darauffolgenden Tagen, Wochen, Monaten,
Jahren. Zehn Jahre ist dieser Nachmittag schon her, kein Wort von Felix, keine
Spur, keine Gewissheit, was damals mit ihm passiert ist. Warum oder wohin er
verschwunden ist. Paul, Felix bester Freund, hat ihn noch immer nicht
aufgegeben, glaubt ihn in diesen zehn Jahren auch schon ein paar Mal gefunden
zu haben, jedes Mal eine neue Enttäuschung. Als er in Prag in einer düsteren
Kellerbar auf einen mysteriösen Mann trifft, der Felix auf den ersten Blick
nicht ähnlich sieht, trifft es ihn mit voller Wucht: Felix. Ist dieser Mann
ohne Erinnerung sein Felix? Auch Louise, Felix Schwester, sucht immer noch nach
ihrem Bruder. Aber Ira Blixen, der Mann, dem Paul in Prag begegnet ist und der
ihm nach Berlin folgt, hat keinerlei Ähnlichkeit mit ihrem Felix - oder doch?
Etwas an ihm, seine Art sich zu bewegen, das Muttermal, seiner Faszination für
das Morbide, diese unscheinbaren Kleinigkeiten erinnern sie an Felix. Ihre anfängliche Unsicherheit weicht immer mehr der
Gewissheit, Felix endlich gefunden zu haben, obwohl sich sowohl bei Paul als
auch bei Louise ein unbestimmtes Unwohlsein nicht abschütteln lässt.
Denn ist der Mann, der sich Ira Blixen nennt, wirklich Felix?
"Paul, der Geist, der Schatten, erkannte, dass er sich als Mensch
vor allem durch
sein Verhältnis zu einem anderen Menschen definiert hatte.
Wenn er nicht Felix' bester Freund war, vermutete er, war er
niemand."
Katharina Hartwells zweiter Roman „Der Dieb in der Nacht“ glänzt durch
seine außergewöhnlich kraftvollen Sprachbilder und das stetig wachsende Gefühl
der Beklemmung, welches Hartwell fast unmerklich im Verlauf des Romans steigert.
Paul und Louise wechseln sich zunächst als Erzähler ab, später kommt
auch Louises Mutter, Agnes, hinzu. Jeder der drei erinnert sich anders an den
Sommernachmittag, an dem Felix spurlos verschwand. Doch in ihrer aller Leben
hat Felix Verschwinden eine bisher nicht füllbare Leerstelle hinterlassen, ein
emotionales schwarzes Loch, welches jedes kleine bisschen Leben Stück für Stück
vergiftet und einnimmt. Paul, für den Felix viel mehr war als nur sein bester
Freund, ist halt- und orientierungslos ohne ihn. Nur durch Felix konnte Paul
seiner enttäuschenden, lieblosen Familie entfliehen und ein neues, besseres
Zuhause bei Agnes, Felix und Louise finden. Es genügt ihm aber nicht, als Freund
dazuzugehören, nie war etwas Paul genug, unersättliche Gier nach mehr, nach
etwas Besserem, ein übermächtiges Wollen treiben ihn an. Er stiehlt
Kleinigkeiten, eignet sie sich an, beinahe unsichtbar macht er sich, wird Felix
Schatten. Nur Felix weiß von Pauls Wollen, kennt diese düsterste Wahrheit über
Paul, weiß um seine Unzulänglichkeiten. Aber trotzdem bleibt er sein Freund.
Felix Verschwinden trifft ihn daher hart. Denn wer ist er ohne Felix, wer ist
er, wenn er nicht mehr Felix bester Freund ist? Existiert er dann überhaupt?
Auch Louise, Felix jüngere Schwester, hat nie gelernt, mit dem Verlust
ihres Bruders umzugehen. Wie Paul driftet sie durchs Leben, planlos, lustlos,
randvoll mit Selbstmitleid.
Ira Blixen, ein Prager Künstler, der sich nicht mehr an die letzten
zehn Jahre seines Lebens erinnern kann, seit er bewusstlos aus der Moldau
gezogen wurde, ist das perfekte Projektionsfeld für Paul und Louise Hoffnungen,
ihre selbstsüchtigen Sehnsüchte. Obwohl der schlanke, schwarzhaarige Blixen dem
gold-gelockten Felix auf den ersten Blick nicht ähnlich sieht, meinen beide
bald, Felix in vielen Kleinigkeiten zu entdecken. Nach anfänglicher Weigerung,
entschließt sich Blixen doch, Paul nach Berlin zu folgen. Je mehr Louise und
Paul in Blixen Felix erkennen und ihn bald Stück für Stück in ihr Leben lassen,
desto stärker wird ein von beiden verdrängtes Unbehagen. Blixen beginnt sich an
vieles zu erinnern, er scheint tatsächlich Felix zu sein - aber weshalb ist er
Paul und Louise dann zugleich so unheimlich und fremd?
Ein starker Roman über Identität, Verlust und die zerstörerische Kraft
der Sehnsucht ist Katharina Hartwell mit „Der Dieb in der Nacht“ gelungen.
Unnachahmlich spielt sie mit Sprache, mühelos erschafft sie bedrückende
Metaphern und unvergesslich treffende Sprachbilder. Den Leser lassen das Gefühl
der Bedrohung, der Beklemmung den ganzen Roman über nicht los, schmerzhaft
bewusst bleibt die Unsicherheit, die Louise und Paul trotz aller Zweifel zu
verdrängen suchen.
Die Realität ist ein fragiles Gebilde, geformt von unserer Wahrnehmung
und unseren Sehnsüchten - Wahrheit ist darin ein scheues Gut.
Der Dieb in der Nacht
von Katharina Hartwell
2015 Berlin Verlag
ISBN 978-3-8270-1279-1
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