Ein Leben am Rande des Abgrunds: Charlotte


„C‘est toute ma vie“ mit diesen Worten übergibt Charlotte Salomon ihrem Arzt Moridis einen Koffer voller Bilder, einen Koffer, den dieser lange ungeöffnet lassen wird. „Leben? Oder Theater?“, der Inhalt des Koffers, ist Charlottes Lebenswerk als Malerin, es erzählt von ihrer Kindheit in Berlin, dem frühen Verlust der Mutter und dem stets durch seine Arbeit völlig eingenommenen Vater, ihrer großen Liebe und ihrer Flucht vor den Nazis nach Südfrankreich. 
Als Kind ist Charlotte einsam und in sich gekehrt, von den wahren Umständen des Todes ihrer Mutter soll sie nichts erfahren. Man will sie schützen vor der Familienkrankheit, Depressionen und Selbstmorde häufen sich unter ihren Verwandten, zuletzt Charlottes Mutter. Erst durch die Heirat ihres Vaters mit einer berühmten Sängerin hält wieder Freude und Hoffnung Einzug im Leben von Charlotte und ihrem Vater Albert. Paula, von Charlotte vergöttert, hat als Sängerin gute Beziehungen zu den Größen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Charlotte selbst entdeckt ihre Berufung zur Kunst und schafft es entgegen aller Widrigkeiten an der Berliner Staatsschule für Freie und Angewandte Kunst aufgenommen zu werden. Ein Mann tritt in ihr Leben, Alfred Wolfsohn. Aber der Hass in Deutschland wird immer stärker und Charlottes Leben gleicht mehr und mehr einem Gefängnis.

"Malen am Rande des Abgrunds. 
Abgeschieden von der Welt, ängstlich und ausgezehrt. 
Charlotte vergisst sich selbst und löst sich auf. 
Bis ihr Werk vollendet ist."

David Foenkinos erzählt in „Charlotte“ die Lebensgeschichte der jüdischen Malerin Charlotte Salomon, einer jungen, genialen Frau, deren viel zu kurzes Leben vom Hass und der Zerstörungswut ihrer Zeit überrollt wird. 
Foenkinos wählt, um diesem einzigartigen Leben gerecht zu werden, eine ganz eigene Art von Erzählstil. An Lyrik erinnernd, erzählt er Charlottes Leben in kurzen Kapiteln, bestehend aus knappen Einzeilern. Atemlos, gehetzt, auf das Wesentlichste reduziert und dabei doch so unendlich ausführlich, zeichnet er ein farbenfrohes Portrait einer genialen Malerin, ihrer tragischen Familiengeschichte und ihrer unwirtlichen Zeit. Bisweilen meldet der Autor sich auch selbst zu Wort, erläutert, wie er mit Charlottes kraftvollem Oeuvre in Berührung kam, wie er versuchte, sich ihr, der er sich so verbunden fühlte, die mit ihren Bildern solche vielfältigen Emotionen ausdrücken konnte, zu nähern. Es ist ihm gelungen, dieses Portrait, dem an Einfühlsamkeit nichts fehlt und welches sich so nah anfühlt, so kraftvoll und lebendig. 
Charlottes Leben ist kurz, Katastrophen reihen sich darin aneinander. Der Selbstmord der Mutter, die Machtergreifung, die Einschränkungen, die ihre Leben zu einem Gefängnis machen. Die Inhaftierung ihres Vaters, der Verlust ihres Geliebten, ihre eigene Flucht nach Südfrankreich, ihre Zeit in einem Lager. Die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter und der Selbstmord ihrer Großmutter. Doch trotz all diesem Schrecken, all den Widrigkeiten, mit denen sich Charlotte konfrontiert sah, schaffte sie es, ihr eigenes Leben zu leben. Selbstbestimmt ihren Träumen zu folgen, Malerei zu studieren, Zeichnerin zu werden und zu lieben. „Leben? Oder Theater?“ ist ihr Lebenswerk, ihre Essenz, geschaffen in dem Wissen, dass ihr nicht mehr viel Zeit dafür bleibt. Nicht mehr viel Zeit, zu arbeiten, zu malen, sich auszudrücken, mit sich selbst und ihrem Leben ins Reine zu kommen und noch ein wenig zu leben. Bevor es zu spät ist und alles endet. 
„Charlotte“ ist ein großartiger, biografischer Roman über eine starke Frau, eine geniale Künstlerin, eine in ihrer Zeit Verfolgte, der es dennoch gelingt sich ihren Lebenswillen - trotz all der Enttäuschungen von außen und von innen - zu erhalten. David Foenkinos wird in seiner starken Prosa Charlotte gerecht, den vielen verschiedenen Aspekten ihrer Persönlichkeit. Einzigartig wie Charlotte selbst ist sein berührendes Prtrait über sie, randvoll mit Leben. 
Lange hatte ich mich auf diesen schönen Roman gefreut und ich wurde nicht enttäuscht. Atemberaubende Literatur!

Charlotte (orig. Charlotte) 
von David Foenkinos 
2015 DVA 
ISBN 978-3-421-04708-3
 
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