Leibhaftig gewordenes Märchen: Der Froschkönig


Plitsch. Platsch. Da ist er bereits wieder, der Frosch, der ihr seit Kindertagen keine Ruhe lässt. Ihr unermüdlich auf Schritt und Tritt folgt. Egal wohin. Auch nach Frankfurt ist er ihr gefolgt, dort soll Leo ein städtebauerisches Konzept für einen bisher industriell genutzten Vorort entwickeln. Aber völlig kann sie sich nicht darauf konzentrieren, der Frosch erinnert sie unermüdlich an ihre Kindheit, in der Leo (Leonie mit langem i) noch Königskind spielen konnte, und ihr Vater, Herr Meister, noch der erfolgreiche König war, dem sie doch nur ein Lächeln entlocken wollte. Bald schon zerbröckelte die schöne Fassade der Königsfamilie, das Wirtschaftswunder hielt nicht ewig an. Der Vater scheitert und klammert sich an das verzweifelte Ziel, wenigstens im heimischen Gartenteich erfolgreich Frösche anzusiedeln. Der eine Frosch aber, jener, welchem die Königstochter Leo zu viel versprach, verfolgt sie weiterhin, sein fluoreszierendes Grün eine stete, greifbare Erinnerung.

„(...) und Leo drehte sich nicht um, obwohl das eine Tier, das untot blieb, 
und wenn es nicht gestorben ist, noch heute lebt, ihr folgte, das, sonst so geschwätzig, 
nun ohne einen Laut von sich zu geben, hinter ihr herging bis zur Zimmertür, 
die Treppe hoch, zur Haustür. 
Und auf dem Weg durch den Garten hörte Leo das Plitsch und Platsch, 
das feuchte Klatschen, und Leo schaute sich nicht um.“

Mit ihrem Roman „Der Froschkönig“ gelingt Simona Ryser eine elegante, poetische Vermischung von klassischen Märchenthemen mit dem komplexen Leben einer modernen, zwischen Kindheit und Erwachsenenalter gefangenen Frau. „Der Froschkönig“ ist eine ungewöhnliche, sprachlich hinreißend schöne Lektüre voll zarter, lautmalerischer Eleganz, fließender Poetik und wiederholt subtil einfließenden Motiven des Grimmschen Märchens „Der Froschkönig“. 
Leonies Frosch ist dabei nicht ausschließlich rein metaphorisch zu verstehen, seine physische Präsenz unterstreicht ihre Verlorenheit, gefangen in ihrer eigenen Erinnerung. Er verfolgt sie, tagein, tagaus, sein grelles Grün, sein Quaken und seine amphibische Feuchtigkeit sind wiederholtes, sich psychotisch äußerndes Thema ihrer Gedanken. Der Frosch ist für sie leibhaftige Präsenz, ein in die Märchenwelt verrückte, metaphorische Personifikation ihrer verlorenen, traurigen Kindheit. 
Der Vater, ein Selfmade Man, welcher den Geist der Zeit richtig erfasst und sich auf Baumaterial und Bautechnik spezialisiert hatte, es so auch in der Zeit des Wirtschaftswunders zu Erfolg gebracht hatte, ist neben seiner Tochter Leo der zweite Protagonist des Romans. Sein Leben, das eng mit dem beruflichen Aufstieg und Scheitern verknüpft ist, erzählt Simona Ryser mit Herrn Meisters ganz eigener, etwas vertechnisierter, sachlicher Stimme, welcher es dennoch nicht an zaghafter Poesie ermangelt und die sich so nahtlos, aber dennoch eindeutig abgrenzbar, in die Gänze des Romans einfügt. Leos aktuelle Gegenwart in Frankfurt, ihre beruflichen Anstrengungen, ihre unbeholfene Annäherung an den Baustatistiker Paul sind eng verflochten mit der Präsenz des Frosches, der ihre Gedankenwelt dominiert und ihren Alltag schwerwiegend bestimmt. Zwischen diesen zwei Polen – Leos Gegenwart und dem vergangene, gescheiterten Leben des Vaters – bilden die noch klarer märchenhaft gestalteten Episoden, Varianten der Grimmschen Froschkönigerzählung mit Leo als Königstochter, eine magische wie metaphorische Verbindung. Leos Vergangenheit begleitet sie, prägt ihre Persönlichkeit und ihr Verhalten und manifestiert sich in der Gestalt des allgegenwärtigen Frosches. Es gelingt ihr nicht, sich frei zu machen, von ihrer Kindheit, dem tragischen Scheitern des Vaters und dem schleichenden Verfall der Familie. Zu sehr ähnelt sie ihrem Vater, zu sehr ist sie ihm beruflich nachgefolgt, noch immer gefangen, gebannt, in dem Märchen, das so zahlreiche Parallelen zu ihrer Kindheit aufweist. 
Vielleicht ist es aber nur ein kleiner Schritt auf einen anderen Menschen zu, um ihrem Leben eine neue Richtung zu weisen. 
Simona Rysers Roman „Der Froschkönig“ ist ein außerordentlich lyrischer Prosaroman, dessen Sprache und Motivik den Leser verzaubern und in die Gedankenwelt der verlorenen Leo entführen, welche doch nur das Glück sucht – doch stattdessen nur einen Frosch als ständigen Begleiter hat. Großartige, besondere Literatur!

Der Froschkönig 
von Simona Ryser 
2015 Limmat Verlag 
ISBN 978-3-85791-764-6
 
Interesse? Hier geht es direkt zum Buch auf der Verlagsseite:

Kommentare

Beliebte Posts