Ein abstruses Experiment: Schöne Seelen


Oskar Canow, seines Zeichens Schriftsteller und ironischer Chronist der Züricher High Society, befindet sich seit geraumer Zeit in einer Schaffenskrise. Die er allerdings geschickt kaschiert, indem er stets viele Einladungen zu gesellschaftlichen Events annimmt.
Das Event des Jahres ist in diesem Fall Millvina Van Runkles Beerdigung, eine der letzten Grandes Dames der High Society, deren Abtritt ebenso glanzvoll und exquisit zu sein hat wie ihr Leben selbst. Auf dem Sterbebett offenbarte sie Oskar, welcher als Künstler immer etwas außerhalb ihrer gehobenen Sphäre steht – geduldet, aber niemals wirklich Teil davon –, dass ihre Tochter Mildred in Wahrheit adoptiert ist.
Mildreds Ehe mit Oskars bestem Freund Viktor verläuft währenddessen immer steiniger und ihre Forderung, ihr Mann solle sich doch in Therapie begeben, zieht ungeahnte Folgen nach sich. Denn Viktor denkt nicht daran, seine Zeit mit Therapie zu verschwenden, stattdessen soll doch Oskar die Therapie für ihn machen. Was als absurde Idee beginnt, kann nur in noch abstruserem emotionalen Chaos enden.

„Im Grunde hatte schon genügt, dass Viktor ein bisschen mit ihm gesprochen hatte, dass er sich gegeben hatte, wie er nun einmal war, mit dieser leicht spröden, dennoch brüderlichen und herzlich verbundenen Kameradschaftlichkeit,
das hatte genügt, und Oskar erwachte zu sich selbst.
Aha, sagte er sich – er hatte diese leichte Neigung zu Selbstgesprächen –,
aha, da ist einer, der an mich glaubt, mich inspiriert, folglich bin ich noch wer (...)“

Philipp Tinglers Roman „Schöne Seelen“ zeichnet mit spitzer Zunge das bitterböse Porträt einer vor Langeweile und Sinnentleertheit berstenden Gesellschaftsschicht, in der das Äußere die einzige relevante Qualität darstellt. Hinein in dieses hohle Leben wirft er seinen Protagonisten, den Autor Oskar Canow, der bereits in Tinglers Roman „Doktor Phil“ ein gefährliches Geschäft mit dem Teufel eingeht. Es scheint, als habe Oskar alles, was man sich im Leben wünschen kann: eine schöne Frau, Lauren; einen Beruf, der ihn ausfüllt und genug Geld, um letzteres nicht wirklich notwendig zu machen. Doch auch bei ihm hat sich auf Grund der stets gleichen Tage voller sinnfreien Muße und Lunches mit den Karikaturen gleichenden Freunden und Bekannten ein Überdruss eingestellt, der sich negativ auf seine Kreativität auswirkt.
Oskars Freund Viktor bietet ihm jedoch just in dieser Situation einen ebenso verrückten wie genialen Funken, der ihm den Ausweg aus dieser Schaffenskrise weisen könnte: Oskar soll an Stelle Viktors eine Therapie machen und dessen Eheprobleme mit seiner – großzügig formuliert – leicht hysterischen Frau Mildred schildern. Kann solch ein Experiment überhaupt jemals gut ausgehen, eine Stellvertretertherapie? Aber Viktor hat Oskar bei seinem nach Aufmerksamkeit lechzendem Ego gepackt. Auf einmal scheint Viktors egoistische Idee gar nicht mehr so absurd zu sein. Immerhin ist es eine Win-Win-Situation – oder etwa nicht? Oskar könnte sich so zu neuen schriftstellerischen Höhen aufschwingen und Viktor kann währenddessen seinem Hobby nachgehen, dem Laientheater. Als Oskar in den Therapiestunden aber ungewollt mehr und mehr seine eigene Persönlichkeit und Vergangenheit mit den ehelichen Problemen Viktors vermischt, gerät das fragile Kartenhaus aus Lügen und Halbwahrheiten bedrohlich ins Schwanken.
„Schöne Seelen“ hat einen starken, sarkastischen Unterton, welcher besonders in den Beobachtungen des auktorialen Erzählers zum Ausdruck kommt. Der Leser bleibt von Beginn an auf Distanz zu den wenig schmeichelhaften, abgehobenen Charakteren einer verklemmten High Society, deren einzige Angstgegner unfreiwillige Peinlichkeit und würdevolles Altern sind. Psychologisches und Philosophisches mischt sich in die Therapiegespräche Oskars und Doktor Hockstädders, eine Transzendenz, die so gar nicht zu dem sonst üblichen Materialismus dieser lieb- und sinnlosen Schatten passen will. Eine entlarvende Satire mit tiefsinnigem Witz!

Schöne Seelen
von Philipp Tingler
2015 Kein & Aber
ISBN 978-3-0369-5723-4
 
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