Ein schmaler Grat: Hellwach


Um an einem Klavierwettbewerb teilzunehmen, bleibt Kiri daheim zurück, während ihre Eltern in den Urlaub gefahren sind. Mit ihrer Band, bestehend aus ihr selbst und ihrem besten Freund Lukas, wollen sie außerdem an einem lokalen Bandwettbewerb teilnehmen. Alles ist strikt durchgeplant, ihre Klavierübungsstunden, die Bandproben, ihr Tagesablauf. Keine Sekunde bleibt ungenutzt. Vielleicht doch die eine oder andere, wenn sie Lukas anschwärmt.
Doch dann bringt ein Anruf von einem Unbekannten alles durcheinander. Er behauptet, er habe Kiris Schwester Sukey gekannt – ihre tote Schwester, die, über die sie daheim niemals reden. Der unbekannte Anrufer sagt, er habe noch Sachen von Sukey. Kiri ist sprachlos und weiß nicht, was sie tun soll. Ohne es wirklich bewusst entschieden zu haben, findet sich auf ihrem Fahrrad auf dem Weg nach Downtown wieder. Denn es geht ja um Sukey, ihre Sukey. In Downtown wartet allerdings mehr auf Kiri als nur die Wahrheit um ihre Schwester – es wird verrückt, verrückter und wilder, als Kiri es sich je hätte träumen lassen.

„Das Leben meiner Eltern ist so strahlend, als wäre es gar nicht echt. Es hat eine klinisch saubere Frische wie Schnittblumen, eingeschweißt in Zellophan. Mir wird schwindelig davon. Seit dem Tod meiner Schwester weiß ich, Leben ist Chaos. (...) Ich bin hellwach, von innen beleuchtet, und begreife, dass das Universum mir heute Nach einen Einblick schenken will – einen Einblick in etwas Großes. Und ich habe Angst, dass sich diese Tür zu etwas Wunderschönem vielleicht schließt und nie wieder öffnet, wenn ich die Chance jetzt nicht nutze.“

Hilary T. Smiths „Hellwach“ beeindruckt durch die rauschhafte emotionale Intensität, mit welcher die psychische Entgleisung der Protagonistin geschildert wird.
Aus der Suche nach dem Leben ihrer verstorbenen großen Schwester, die schon lange zuvor auf Grund ihres absolut nicht mittelständischen Künstlerlebensstils bei den Eltern in Ungnade gefallen war, findet Kiri weit mehr als nur die Wahrheit über Sukey. Was ihr immer glamourös und frei erschienen war, entpuppt sich als trostloses und tragisches Leben am Rand der Gesellschaft. Auf ihren, den Eltern verschwiegenen, Nachforschungen in Downtown begegnet sie auch Skunk, einem Musiker, der wie ihre Schwester den Pfad des „Normalen“ schon lange verlassen hat. Vergessen ist Lukas, der sie kaum je eines Blickes gewürdigt hat und stattdessen lieber mit anderen Mädchen ausgeht. Gemeinsam mit Skunk versucht sie, ihrer Schwester, von der sie so wenig Wahres wusste, auf die Spur zu kommen. Dabei rutscht sie selbst unmerklich Stück für Stück emotional weiter ab. Vergessen sind die Tagespläne, die Übungsstunden. Kiri beginnt unkonventionell zu denken, hat Stimmungsschwankungen und geht schließlich völlig in ihren zunehmend manischen Episoden auf. So frei, so kreativ und wahrhaftig hat sie sich in ihrem kleinen, eingeschränkten Leben noch nie gefühlt. Ganz nah kommt sie etwas Unfassbarem, etwas, das den meisten Menschen entgeht. In dieser produktiven Höchststimmung macht sie gemeinsam mit Skunk Musik, wie sie es zuvor nie gekonnt hätte: ungehemmt, roh, wahr, schön. Aber ewig kann der Rausch nicht andauern, denn Kiris Verhalten entgleist mehr und mehr, eine Abwärtsspirale deren Ende immer schneller in Sicht kommt ...
„Hellwach“ trifft mit seiner schonungslosen Sprache, mit welcher die psychologischen Abgründe der Protagonistin einfühlsam und präzise ausgelotet werden. Smiths Roman spricht viele Themen an, Selbstfindung, psychische Krankheiten wie auch den Umgang mit diesen in einer Gesellschaft, die solche unliebsamen „Fehler“ lieber verschweigt. „Hellwach“ ist ein absolut großartiger Roman, dessen soghafte Abwärtsspirale jeden Leser mit sich reißt und ob seiner ungeschönten Rohheit sprachlos macht.

Hellwach (orig. Wild Awake)
von Hilary T. Smith
2015 Fischer FJB
ISBN 978-3-8414-2157-9
 
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