Inmitten des Zerfalls: Wiedersehen in Paris


Guéo arbeitet für das Politbüro in Sofia, ist ein KGB Absolvent der ersten Stunde, schon als Waisenkind wurde er von den Kommunisten rekrutiert und war ein vielversprechender Fang, der es noch weit bringen sollte. Als er Alba in einem Regierungskrankenhaus kennenlernt, ist er bereits zum zweiten Mal verheiratet. Diverse Söhne hat er mit seinen beiden offiziellen Frauen und einigen seiner Geliebten. Alba hingegen ist erst siebzehn und hat ein gelähmtes Bein. Langsam nähern sich die beiden einander in der privilegierten Atmosphäre an, verbringen Abendessen gemeinsam und teilen ihre Liebe zur Literatur. Guéo versucht vergeblich, Alba mit seinem erstgeborenen Sohn Christo zusammenzubringen – eine zum Scheitern verurteilte Anstrengung, denn sowohl Alba als Guéo sind längst dabei, sich ineinander zu verlieren. Während er an einem grundlegenden Reformprogramm für die Partei arbeitet und der Kommunismus sein letztes Röcheln ausstößt, schotten die beiden allseits überwachten Liebenden sich immer stärker von der Realität ab.

„Der Kommunismus hatte Besitz von Ländereien verboten,
aber seine eigentliche Niederlage bestand darin, die Herzen besitzen zu wollen.
Die Lager und die schamvollen Nächte ihrer Anstifter, ihrer Entscheider,
auch Guéos, waren voller Männer und Frauen, die sich lediglich
 ihre unberührbaren, unveräußerlichen Herzen bewahren wollten.
Ich habe Guéos Herz nie besessen. Auch er hat meines nie besessen.
Wir haben sie lediglich im Gleichtakt schlagen lassen. Waren wir frei?“

Albena Dimitrovas Romandebüt „Wiedersehen in Paris“ erzählt von den beiden starcrossed lovers Alba und Guéo, die einander in einer Zeit des Zerfalls, am Ende einer Ära, begegnen. Glasnost und Perestroika haben längst die Ideale und Ziele der Kommunisten aufgeweicht, auch in den ehemaligen Satellitenstaaten wie Alba und Guéos Bulgarien ist das nahende Ende spürbar. 
Nach Guéos anfänglichem Sträuben gegen seine Gefühle für Alba, gibt es für sie kein Halten mehr: es gibt nur noch sie beide. Weder der Altersunterschied noch die Interventionen von Guéos Ehefrauen, Geliebten oder der Partei vermögen jedoch die Liebenden zu trennen vermögen. Sie schaffen sich ineinander einen Rückzugsort vor der Welt und finden sich ineinander in einer Liebe, welche in ihrer verzweifelten Leidenschaft nicht für die Ewigkeit gemacht ist: Alba und Guéo gehört dieser Moment. Ihre Liebe ist ein Aufbäumen, das die Vergänglichkeit zu negieren sucht. Die Zukunft ist etwas, für welches sie zwar gemeinsam Pläne schmieden, das jedoch schon längst dabei ist, zu vergehen. Sie wären einander genug, diese beiden – ließe ihnen die Welt nur eine Chance dazu. 
Da Guéo wiederholt sein Gutachten für das Reformprogramm vor den Parteifunktionären nicht vorlegt und sich stattdessen kritische Äußerungen zu den Verirrungen des Kommunismus erlaubt, gesellen sich zu den Männern seiner Ehefrau auch solche des Geheimdienstes, um die Liebenden zu überwachen. Er und Alba reisen gemeinsam, verdrängen die allgegenwärtige Bedrohung ihres gemeinsamen, fragilen Lebens von außen, bis Guéo nicht mehr länger die Augen vor der bevorstehenden Katastrophe verschließen kann. Ihm und Alba bleibt nur die Hoffnung auf ein gemeinsames Abendessen in Paris, irgendwann in der Zukunft.
„Wiedersehen in Paris“ ist ein leidenschaftlicher, kleiner Roman, kein Wort ist zu viel an Albena Dimitrovas exakter Prosa. Triefend vor Verzweiflung und einer Liebe wider jede Vernunft, verspinnt die Autorin das Schicksal ihrer Protagonistin Alba geschickt mit den letzten Jahren des Kommunismus und brilliert somit sowohl auf emotionaler wie historischer Ebene. In ebenso bild- wie kulturhistorisch anspielungsreicher, fließender Dichtung gelingt es ihr, die Endzeitstimmung eines politischen Systems ebenso authentisch darzustellen wie eine intensive Liebesbeziehung, welche von Beginn an unter einem schlechten Stern stand. 
Ich freue mich bereits darauf, mehr von dieser talentierten Autorin zu lesen!

Wiedersehen in Paris (orig. Nous dînerons en français)
von Albena Dimitrova
2016 Verlag Klaus Wagenbach
ISBN 978-3-8031-3277-2
 
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