So könnte es gewesen sein: Der Scheiterhaufen


Als Vollwaise lebt Emma seit dem Unfalltod ihrer Eltern in einem Internat, bis völlig unangekündigt eine alte Frau auftaucht und sich als ihre Großmutter vorstellt. Eine Großmutter, von der ihre Mutter niemals auch nur ein Wort gesprochen hatte. Dennoch folgt Emma der etwas wunderlichen alten Frau in ein ihr fremdes Dorf. Dort wird sie mit tief verwurzeltem Hass und Verachtung konfrontiert, denn der Großvater, der sich umgebracht hat, gilt als Spitzel des nunmehr gestürzten Regimes. Mit der Großmutter steht es nicht besser: Sie ist als Hexe und Verrückte im Dorf bekannt. Vielleicht ist daran auch etwas Wahres, denn die Realität war noch nie so nah am Fantastischen wie an gemeinsamen Tagen mit ihrer Großmutter.
Vergangenes ist noch lange nicht vergangen in ihrem Dorf, der rumänische Diktator zwar tot, die Revolution vorbei, ein neuer Supermarkt gebaut – aber Freiheit bedeutet das noch lange nicht.
Inmitten von Lügen, Verunglimpfungen und den Erinnerungen ihrer Großmutter wächst Emma auf und kommt der Wahrheit immer näher.

„Großmutter verstummt, die Falten scheinen ihr Gesicht in Splitter zu legen, sie schluckt Luft, als kämpfe sie mit dem Ersticken, es könnte sein, sagt sie, dass es so war, es könnte aber auch sein, dass es anders war. Es kann sein,
dass sich alles ganz anders zugetragen hat, viel einfacher, es kann sein, [...]“

György Dragománs Roman „Der Scheiterhaufen“ ist ein vielschichtiger Entwicklungsroman, das Porträt einer Umbruchszeit, geschildert aus Kindermund. Magisches und Phantastisches mischt sich so nonchalant in den Alltag, in die lakonische Erzählsprache der jungen Protagonistin, dass es nahtlos mit der Realität verschmilzt.
Emmas Faszination für die Ameisenkolonie, ihre Trainingstunden im Geländelauf, die Zeichenkurse, nichts an dieser Erzählung ist zu viel. Dennoch erkennt man erst spät die Verbindungen, welche zu ziehen Dragomán mit größter Sorgfalt gelungen ist.
Die Großmutter ist eine majestätische Frau, furchteinflößend, streng aber auch wunderlich. Den Geist ihres verstorbenen Mannes sieht nicht nur sie im Haus, auch Emma begegnet so ihrem Großvater. Mit ihr kann man Strudel backen, für den Jungen, in den man sich verliebt hat; sich an die Gesichter der Verstorbenen erinnern, indem man sie ins Mehl zeichnet. Aber auch sie hat ihre Geheimnisse, solche, die so unfassbar und schrecklich sind, dass sie die Großmutter wirklich den Verstand verlieren ließen.
„Der Scheiterhaufen“ ist ein wuchtiger, vielschichtiger Roman. Man muss sich Zeit nehmen, um abzutauchen in Dragománs magischen Realismus, sich fallen zu lassen in das Geflecht aus Lügen, Schmerz, Verleumdung und den ameisengroßen Körnchen Wahrheiten. Zu den Schilderungen von Emmas schwierigem Alltag als Außenseiterin gesellen sich ihre Stunden der Einsamkeit, in denen sich oft das Symbol der Ameise wiederfindet, sowie die traumhaft-surrealen Erinnerungen ihrer Großmutter, mit denen sie sich dem Urteil ihrer Enkelin schutzlos ausliefert. Denn Wahrheit ist nicht gleich Wahrheit – und Richtig und Falsch liegen oft sehr nahe beieinander. Am Ende bleibt nur der Schmerz der Überlebenden. Ein epochaler Roman, randvoll an Unmöglichem, aber vielleicht macht genau das seine unerschütterliche Wahrheit aus.

Der Scheiterhaufen (orig. Máglya)
von György Dragomán
2015 Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-42498-8
 
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