Familiendrama par excellence: Das Unglück anderer Leute
Thiene
will doch nur ihren Abschluss in Oxford gebührend entgegennehmen. Aber wie soll
sie das machen, wenn sich ein Teil ihrer verrückten Patchwork-Verwandtschaft
dafür angekündigt hat? Der schwule Vater, die grantige Großmutter und zu allem
auch noch ihre Mutter, die ihren Willen und ihren Helferkomplex gegen alle
Widerstände durchsetzt - auch gegen Thienes. So will Frau Mama auch jetzt am
Flughafen abgeholt werden, was bei den anderen dreien auf nur wenig Verständnis
und dafür auf umso mehr Wutpotenzial trifft. Ist es denn zu viel verlangt, dass
die exzentrische Mutter sich wenigstens zu diesem Anlass, der ganz allein
Thiene gehören sollte, zurücknimmt? Scheinbar schon, denn durch einen
waghalsigen Spaziergang auf der Autobahn schafft sie es doch tatsächlich bei
einem Unfall zu sterben. Thienes Abschluss ist überschattet vom unnötigen Tod
der Mutter, die es selbst im Tod geschafft hat, sich erfolgreich in den
Mittelpunkt zu drängen.
„Stattdessen tat ich etwas Unerhörtes; etwas, was
zugleich lächerlich offensichtlich und vollkommen überraschend war. Ja, ich tat
etwas Geniales.
Langsam und kontrolliert hob ich beide Hände in die Höhe.
Ich
streckte meine Zeigefinger aus und steckte sie tief in die Ohren, (...)
Wer
hätte gedacht, dass es die erwachsenste Entscheidung meines Lebens sein sollte,
mir die Finger in die Ohren zu stecken?“
Nele
Pollatschek hat bereits mit ihrem Debütroman „Das Unglück anderer Leute“ etwas
geschafft, das nur wenigen Autoren gelingt: Sie hat eine wahrhaft amüsante,
sich nicht allzu ernst nehmende Satire über die kleinen und großen
Verrücktheiten von Familien geschrieben. Wirklich witzig zu sein ohne dabei die
nötige Tiefe oder den gebotenen Ernst zu ermangeln, der dem Gesagten dann das
Gewicht verleiht, nicht nur kurzlebige Ablenkung, sondern auch Anstoß zur
Reflexion zu geben – das kann nicht jeder.
Das
Familiendrama wäre auch ohne den Tod der egozentrischen Matriarchin ausreichend
gegeben – ihr plötzlicher und völlig unnötiger Unfalltod beenden den prekären
Waffenstillstand zwischen den Familienmitgliedern allerdings abrupt und
verheißen Thiene sehr viel mehr Zeit mit der lieben Verwandtschaft als ihr
Recht ist. So fällt ihr beispielsweise die zweifelhafte Ehre zu, ihrem jüngeren
Stiefbruder und der Stiefschwester im Kleinkindalter (beide natürlich von
unterschiedlichen Vätern, alles andere wäre der Mama zu normal gewesen)
beizubringen, dass sie plötzlich keine Mutter mehr haben. Die Patchworkfamilie,
mit der sie ihre Leser dabei konfrontiert, könnte kaum verrückter oder prall
gefüllter mit absurden und sich konterkarierenden Persönlichkeiten sein – die
ewig jung gebliebene, egozentrische Mutter (immer auf Krawall gebürstet), der
schwule Zauderer als Vater, der verständnisvolle Lebenspartner desselben, die
alkoholkranke Großmutter, ein verschüchterter Teenager, ein höchst religiöser
weiterer Kindsvater ... Dabei gelingt es ihr jedoch, ihre Figuren nicht nur
klischeehaft knapp und treffend zu charakterisieren, sondern Zeile für Zeile
mit Leichtigkeit Tiefen zu deren Persönlichkeiten hinzuzufügen wie zu einem
hervorragenden Blätterteig. Bis zum Ende hin gehen Nele Pollatschek die
Absurditäten nicht aus, gegen welche sie ihre familiär geschädigte
Protagonistin Thiene ankämpfen lässt.
Ein
absolut geniales Lesevergnügen und eine neue literarische Stimme, von der ich
gerne mehr hören möchte!
Das Unglück anderer Leute
von Nele Pollatschek
2016 Galiani Berlin
ISBN 978-3-86971-137-9
Interesse?
Hier geht es zum höchst amüsanten Roman auf der Verlagsseite:
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